Kamera läuft – bitte lächeln!
Thomas de Maizière will mehr Videoüberwachung. Und deshalb macht er das jetzt auch. Dass sie keine Sicherheit bringt? Ist ihm egal. Dass sie der Demokratie schadet? Egaaaal! Der Innenminister will nicht nur, dass an noch mehr Orten noch mehr Kameras hängen. Jetzt sollen sie auch Gesichtsausdrücke analysieren. Mit rechtsstaatlicher Verbrechensbekämpfung hat das nichts mehr zu tun.
Die beiden Maßnahmen in Kombination sind Gift für eine freiheitliche Demokratie. Wer sich beobachtet fühlt, versucht nicht aufzufallen. Wenn wir uns dabei auch noch fragen müssen, ob ausholende Gesten oder ein Montag-Morgen-mäßiger Gesichtsausdruck vom Algorithmus als Gefahrensignal ausgewertet werden: Wie sollen wir in der Öffentlichkeit noch wir selbst sein?
Berlin Südkreuz wird zum Versuchslabor für „intelligente Kameras“
In Zusammenarbeit mit der Bahn will der Innenminister in Berlin Südkreuz ein Überwachungs-Versuchslabor einrichten – vernetzte Kameras, die mit Software ausgerüstet sind, die Gesichter erkennt und deren Ausdruck analysiert. Heise berichtet:
„Bei dem am Bahnhof Südkreuz zu testenden System erfolgt ein Alarm bei auffälligen Bewegungen von Personen. Unter anderem sollen dadurch Graffiti-Sprüher erkannt werden. Nicht beaufsichtigte Gepäckstücke sollen von der Software ebenfalls detektiert werden. Schließlich werden die Kameras auch zur Gesichtserkennung aufgerüstet. Die aufgenommenen Passanten würden dann mit einschlägigen polizeilichen Datenbanken abgeglichen.“
Wow. Die Probleme bei dieser Maßnahme sind so zahlreich, wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen!
Verwechslungsgefahr: Gesichtserkennungs-Programme kommen auf eine Trefferquote von etwa 97 Prozent. Was ist mit den restlichen drei Prozent? Das bedeutet, dass sich alle der Gefahr ausgesetzt sehen, am Bahnhof von einer Gruppe Bundespolizisten umzingelt zu werden, obwohl sie keinerlei Verbrechen begangen haben. Wie viel 3 Prozent tatsächlich sind, wird durch dieses Rechenbeispiel deutlich:
False Positive Paradox: Das False Positive Paradox ist ein statistisches Ergebnis bei dem die Zahl der falschen Positive (also z.B. Menschen, die zu unrecht als Terroristen "erkannt" wurden) die Zahl der richtigen Positive um das tausendfache übersteigt. Schon bei 1% Fehlerquote werden so viele Menschen als Terroristen "erkannt", dass es unmöglich wird, darunter wiederum die tatsächlichen Terroristen auszumachen. In einer Stadt mit 20,000,000 Einwohnern und 10 tatsächlichen Terroristen würden bei einer Fehlerquote von 1% ganze 200.000 Menschen als Terroristen erkannt.
Zweckentfremdung: Unter dem Buzzword Big Data ist es gängige Praxis: Daten werden für einen Zweck erhoben und dann für einen anderen verwendet. Wir wissen nicht, worauf die Videos, die heute von uns aufgenommen werden, in Zukunft ausgewertet werden. Aufmerksame Personen können viel in den Gesichtern ihrer Mitmenschen lesen oder erahnen: depressive Stimmmung, Verliebtheit, Alkoholismus. Ob künstliche Intelligenz das bald auch kann? Ob das dazu führt, dass eine Person die im März 2017 schlecht gelaunt durch einen Bahnhof läuft, im August 2020 einen Job nicht bekommt – weil die Maschine gesagt hat, sie sei psychisch labil?
Selbstzensur: Wer sich beobachtet fühlt, verstellt sich. Uns glotzen also zahllose Kameras an. Und wir wissen, dass diese Kameras auswerten, wie wir uns bewegen, wie wir schauen. Freies, unbefangenes Verhalten? Fehlanzeige. Wir werden uns hüten, irgendwie aufzufallen. Aus Angst, als potentielle ‚Gefährder‘ abgestempelt zu werden. Dieses Phänomen der Selbstzensur ist bereits wissenschaftlich beschrieben worden: der Chilling Effect. Das Bundesverfassungsgericht berief sich schon mehrfach auf diesen Effekt, der einer freien Gesellschaft diametral entgegen steht. Übrigens ist es auch für den Fortschritt schädlich, da es meist die Querdenker und Ausreißer sind, die Entwicklung voran treiben.
Auf Schritt und Tritt unter Beobachtung
Die Orte, an denen wir uns befangen und unfrei verhalten, werden zahlreicher. Auch dafür will #Terrorthomas sorgen. Mit einer Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes will der Innenminister private Betreiber von Gaststätten, Veranstaltungshallen und Bahnhöfen ermuntern, fleißig zu filmen. Damit sich die Strafverfolgungsbehörden dann am Bildmaterial bedienen können. Im Entwurf heißt es, an solchen Orten „gilt der Schutz von Leben, Gesundheit und Freiheit von dort aufhältigen Personen als ein besonders wichtiges Interesse“. Wie Überwachung unsere Gesundheit und Freiheit beschützen soll, ist uns schleierhaft.
Terroristen mögen Kameras
Dass Videoüberwachung weder Leben noch Gesundheit schützt, steht fest. Gegen Terrorismus hilft sie nicht. Im Gegenteil: Für die Feinde der Demokratie ist das kostenlose PR. Wer Angst verbreiten will, freut sich über die Bilder. Das bestätigen die Aufnahmen von Anis Amri, der noch nach dem Anschlag am Breitscheidtplatz vor Kameras posiert hat.
Gewalttäter ignorieren Kameras
Spontane Gewalttaten werden durch Überwachung nicht vereitelt. Jedes Video das Gewalt zeigt, belegt das. Täter, die impulsiv handeln, lassen sich davon nicht abschrecken. Und: Kameras können nicht eingreifen. Das können nur Menschen. Geld in Kameraüberwachung zu stecken und an Ausgaben für Sicherheitspersonal zu sparen: Ganz schlechte Idee. Immerhin, die Deutsche Bahn dürfte durch die Videoüberwachung Reinigungskosten sparen: Das einzige Delikt, das sie verhindert, ist Vandalismus. Gesprayt wird nicht, wo Kameras sind.
Also, liebe Berliner und liebe Reisende: Immer recht freundlich! Sie wollen ja nicht auffallen, oder?
Autorin: Kerstin Demuth
Aufmacherbild: Ludovic Bertron CC-BY 2.0
Grafik- und Textidee: @Algoropticon/ FIfF e.V. CC-BY 4.0
Grafiken: Jens Reimerdes CC-BY 4.0