Eine Statue als Gesprächsangebot
Die Tonfigur steht auf einem Sockel. Sie hat kein Gesicht und auch nur wenige andere angedeutete körperliche Details: Arme, Beine, Brust. Die Schultern zieht sie nach oben. Ein Zahlenstrom, eingebrannt auf einer Glasplatte, durchfließt sie und durchschneidet sie längs. Mit einem Bleiband ist sie an die Scheibe und an diesen Datenstrom gefesselt. Im Rücken klafft eine längliche Wunde. Der Figur fehlt das Rückgrat.
Seit dem Jahr 2000 erhalten Datenkraken unseren Negativpreis für Vergehen an der Privatsphäre von Menschen – den BigBrotheraward. Seither haben haben wir es versäumt, Ihnen unsere Statue, die als Trophäe verliehen wird, einmal genau vorzustellen. Das soll sich jetzt ändern.
Denn die Statue ist mehr als eine bloße Trophäe. Sie ist ein Kunstwerk und ein Gesprächsangebot.
Orwells Roman „1984“ als Ursprung der BigBrotherAwards
Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Gesicht tritt. Unaufhörlich. (George Orwell: 1984)
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Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden gefährliche Machenschaften für Menschen und Demokratie mit diesen Preisen ausgezeichnet und Datenkraken so an die Öffentlichkeit gezerrt. Der Name der Awards ist George Orwells Roman 1984 entlehnt. Orwell erwartete bereits Ende der 40er Jahre eine Gesellschaft, die unter der Totalüberwachung des Big Brother steht. Seine Vorstellung der Zukunft – ein Stiefel der in ein Gesicht tritt – wurde zur Vorlage für die erste Statue, die in England als Award verliehen wurde.
Die deutschen Awards weichen bewusst vom Original ab
Für die deutschen BigBrotherAwards hat der Künstler Peter Sommer eine neue Skulptur entworfen. Orwells Vision der brutalen Unterdrückung in einem totalitären Staat wurde ersetzt durch eine Statue, die künstlerisch ein Gesprächsangebot symbolisiert: Die unterdrückte Figur kann sich von ihren Fesseln befreien. Die Orwell-Statue der britischen Erfinder der BigBrotherAwards erscheint wie eine endgültige Dystopie; aus einem Dialog hingegen können Konsequenzen folgen und gemeinsam Lösungen gefunden werden. Und auch der deutschen Statue lag ein literarisches Vorbild zugrunde.
Peter Sommer ist ein Künstler aus Ostwestfalen. Geboren wurde er 1935 in Neustadt/Schlesien. Heute lebt er in Oerlinghausen. Er lehrte bis 2000 an der Universität Bielefeld im Fachbereich Kunst. Die Uni verlieh ihm für seine Verdienste den Titel eines Honorarprofessors. Alle Statuen, die er für die BBA gestaltet, sind Unikate und leicht unterschiedlich.
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Der Datenstrom auf der Glasplatte, an welche die Figur gefesselt ist, ist ein Hexadezimalcode. Entschlüsselt man ihn, ergibt sich eine Texstelle aus Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“: die Beschreibung der Schlafschule.
Die „schöne neue Welt“, die Huxley beschreibt, ist die Welt einer konsequent verwirklichten Wohlstandsgesellschaft mit einem hohen Preis: Für eine Welt, in der alle Menschen in Luxus leben, wurden Kunst und Freiheit geopfert. Das Individuum hat seine Individualität verloren. Alle Menschen bilden zusammen eine vollkommen formierte Gesellschaft.
Alphakinder tragen Grau. Sie arbeiten viel mehr als wir, weil sie so schrecklich klug sind. Oh, wie froh bin ich, dass ich ein Beta bin und nicht so viel arbeiten muss! Wir Betas sind etwas viel Besseres als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm. Sie tragen alle grün und Deltakinder tragen Khaki. Nein, ich mag nicht mit Deltakindern spielen. Und Epsilons sind noch schlimmer. (Einflüsterungen in der Schlafschule; Aldous Huxley: Schöne neue Welt)
Zentrale Voraussetzung für diese Formierung ist eine genormte Menschheit. Genormte Menschen sind berechenbar und manipulierbar, darum werden sie buchstäblich im Glas gezüchtet und auch psychisch geformt. In der Schlafschule werden den Menschen im Schlaf manipulative Meinungen eingetrichtert. Sie sind Zwangsarbeiter.innen, die nicht zur Zwangsarbeit gezwungen werden müssen, denn sie werden dazu gebracht, ihr Sklaventum und ihre Rolle in diesem Sklaventum zu lieben. Huxley selbst war überzeugt, dass seine Vision irgendwann Wirklichkeit wird. Unser Eindruck ist, dass er damit leider recht behalten hat und wir heute seiner Vision viel näher sind als der Dystopie aus 1984.
„Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft Gegenwart“
Huxleys „Schöne neue Welt“ ist kein Szenario mehr, sondern Gegenwart. (padeluun)
Im entfesselten Kapitalismus soll Konsum die Leute zufrieden machen und besänftigen. Durch gezielte Kontrolle und Manipulation werden die Menschen bei Huxley ganz unbewusst gesteuert. Dieser Gedanke aus „Schöne neue Welt“ entspricht unserer Gegenwart eher als die brutale Unterdrückung in Orwells „1984“. Überwacht werden wir nicht nur von einem totalitär verwaltenden Staat, sondern auch von kapitalistischen Konzernen. Wenn diese Daten über uns anhäufen und Personenprofile erstellen, werden sie für uns ähnlich gefährlich wie totalitäre Regierungen. Außerdem machen Menschen bei den Marketing-Spielen der Konzerne bereitwilliger mit, weil sie sich persönliche Vorteile versprechen.
In den 80ern war Orwells Roman „1984“ in den Köpfen der Menschen präsent. Der Staat wurde als Gefährder der persönlichen Freiheit erkannt, nicht aber Unternehmen. Als in den 90er Jahren Werbung immer lauter und bunter wurde, hatte Datenschutz nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Im Jahr 2000 gewann deshalb auch die Payback-Karte einen der unbegehrten Preise: Menschen sollten aufmerksam werden, dass sie, ohne es zu merken, bereits an Datenströme gefesselt waren.
Die Illusion, dass Punktesammeln beim Einkaufen nur Spaß macht und und am Ende eine kostenlose Bratpfanne dabei herausspringt, sollte gebrochen werden. (Rena Tangens)
Den Preis annehmen – eine Chance wahrnehmen
Payback hat den Preis damals nicht entgegengenommen. Zunächst scheint das nachvollziehbar: Einen BigBotherAward zu gewinnen, ist eine zweifelhafte Ehre. Trotzdem sollen alle Gewinnerinnen und Gewinner, wenn sie denn zur Veranstaltung kommen, eine materielle Auszeichnung entgegennehmen können. Sie sollen außerdem die Möglichkeit haben, mit Datenschutz-Interessierten ins Gespräch zu kommen und sich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen. So kann aus der Preisverleihung ein Dialog entstehen, in dem die Vertreter.innen der Datenkraken erkennen, wie stark sie in die Grundrechte von Menschen – und damit auch in ihre eigenen – eingreifen.
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Bisher wurde die Statue nur dreimal in Empfang genommen: von der Telekom, von Microsoft und vom Zensus. Einige Statuen wurden aber auch nachträglich überreicht oder den Leuten in Form eines gerahmten Bildes hinterhergetragen. Besonders im Gedächtnis blieb der Versuch einer Preisverleihung an Thomas de Maizière. 2015 wurde ihm zusammen mit Hans-Peter Friedrich für die Sabotage der geplanten europäischen Datenschutzgrundverordnung der BBA in der Kategorie Politik verliehen. Weil de Maizière den Preis nicht selbst annahm, brachten Rena Tangens und padeluun die Statue zum Evangelischen Kirchentag 2015 nach Stuttgart mit. Rena Tangens nutzte die Gelegenheit, die Wahl für de Maizière und Friedrich noch einmal zu begründen. Als padeluun den Bundesinnenminister mit dem Preis am Rand einer Bühne empfing und freundlich fragte, ob er ihn nicht doch mitnehmen wolle, lehnte dieser lautstark ab: „Auf gar keinen Fall!“
Die Figur kann sich befreien
Eine bisher einzigartige Variation der Statue wurde 2015 verliehen. Thilo Weichert erhielt einen Positivpreis für seine Verdienste um den Datenschutz und seine Zeit als Jurymitglied bei den BBA.
Die BBA-Statue, die an Datenkraken verliehen wird, zeigt den rückgratlosen Menschen innerhalb der Datenwelt, zerteilt durch den Datenstrom, unbeweglich und unfähig zur freien Entfaltung. Sie zeigt den Zustand, aus dem wir uns befreien müssen. Weicherts Statue hingegen, frei und ungebunden, ist der Zustand, den wir erreichen wollen – und den wir erreichen können, wenn wir im Dialog das digitale Zeitalter unseren Werten und Grundrechten gemäß gestalten.
Und außerdem finde ich die Statue knalleschön. (padeluun)
Bilder
BBA-Statue: Digitalcourage
Verabschiedung von Thilo Weichert: ULD
Text
Maximilian Köster