Was haben wir gelernt? – Realitätsabgleich zum Mauerfall
Ein Kommentar von Leena Simon
Mit einem beeindruckenden Festakt feiert Berlin den Fall der Mauer vor 25 Jahren. Ein emotionales Spektakel, das viele Menschen auf die Straße und Tränen in die Augen treibt. Redner.innen sprechen von Freiheit, Politiker.innen stecken Blumen in die Überreste der Mauer und eröffnen Dauerausstellungen. Eine ergreifende Stimmung geht von der Hauptstadt aus.
Was haben wir uns auf dieses Ereignis gefreut. Darauf, dass die Überwindung des Überwachungsstaats DDR gefeiert wird. Die Held.innen des Mauerfalls verdienen es gefeiert zu werden. Große Worte werden gesprochen. Von Freiheit und der „friedlichen Revolution“. Man kann sich kaum entscheiden, wen man lieber zitieren möchte. Wenn da nur nicht permanent dieser Realitätsabgleich wäre. Die Worte wollen einfach nicht so recht schmecken.
Angela Merkel bezeichnet die Mauer als „in Beton gegossenes Symbol staatlicher Willkür“. Wie bitter dies klingt in den Ohren derer, die sich heute für Grundrechte einsetzen und tagtäglich gegen staatliche Willkür in Deutschland kämpfen. In einer Politik, die das Problem von Überwachung abtut und selbst immer neue Überwachungsgesetze anstößt.
Totalüberwachung kehrt das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Regierung um. Durch Überwachung werden wir zu Beherrschten. Und darum riefen die Demonstrant.innen am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz auch „Wir sind das Volk“.
Besonders oft hört man das überaus gerechtfertigte Lob an die Bürgerrechtsbewegung der 1980er Jahre. Doch die eingeladenen Gelobten vergessen zu erwähnen, dass Überwachung in Deutschland heute zum Alltag gehört. Es schmerzt mitanzusehen, wie die gleichen Politiker.innen von Freiheit und dem Unrecht der DDR sprechen, die in Bezug auf unsere heutigen Belange auf Dauerdurchzug gestellt haben.
Gegen was traten die Menschen damals an? Die Methoden der DDR hatten System. Regimekritiker.innen wurden beschattet, bespitzelt, eingeschüchtert und aus dem Weg geräumt. Doch es ging auch subtiler. Bei der sogenannten „Zersetzung“ wurde das „Zielobjekt“ in seiner Wahrnehmung verunsichert. Viele merkwürdige „Zufälle“ führten dazu, dass man den eigenen Sinnen nicht mehr traute. Auf diese Weise konnte man sauber und unauffällig Menschen aus der Bahn werfen. Solche Beeinflussung basierte auf den genauen Informationen, die man über das „Zielobjekt“ gesammelt hatte. Dies ist noch immer möglich. Allerdings ist der Aufwand dafür enorm gesunken, die Präzision immens gestiegen.
In Gesprächen über die „friedliche Revolution“ wird betont, wie wichtig es war, dass Menschen miteinander kommuniziert haben. Dass sie zueinander gestanden und sich engagiert haben. Wie schade, dass kaum jemand den offensichtlichen Zusammenhang herstellt und darauf hinweist, dass wir die Freiheit unserer Lebensräume und Kommunikationskanäle auch heute mit Solidarität und Engagement verteidigen müssen.
Gewiss war die Repression durch die Überwachung in der DDR viel deutlicher spürbar und die Möglichkeiten wurden (nach derzeitgem Kenntnisstand) viel umfassender genutzt, betrafen ganz offensichtlich alle Menschen. Der Schwur, die Erinnerung wach zu halten und aus der Geschichte gelernt zu haben ist völlig leer, wenn es erst dazu kommen muss, dass die „Leidenshöhe“ so hoch ist, wie sie im Jahr 1989 war.
Besonders an diesem Datum ist, wie es uns daran erinnert, dass es nicht die Politik ist, die die Verantwortung über Freiheit und Grundrechte trägt. Es sind die Menschen, die sich gemeinsam jeden Tag neu dafür einsetzen müssen.
„In dieser Nacht war es das Volk selbst, das seine eigene Geschichte schrieb“, kann man nun Martin Schulz mit schönen Worten zitieren. Er wiederum ist nicht der erste, der eindringlich den Satz „Wir sind das Volk“ zitiert. Er, als Teil eines Regierungsorgans, dass uns mehr und mehr als Untertanen behandelt.
Wir wollen sagen können: „Ja, wir haben aus der Geschichte der DDR gelernt.“ Damit wir das können hilft es uns nicht, auf das Verhalten der Anderen zu schauen und zu diskutieren, ob diese sich ausreichend distanziert haben. Ob wir das sagen können hängt ganz allein von unserem eigenen Verhalten ab. Das bedeutet, dass wir einen solchen „Unrechtsstaat“ schon in seinen Anfängen mit aller Vehemenz verhindern müssen. Das bedeutet, dass wir nicht warten dürfen, bis er wieder so weit fortgeschritten ist, dass man die Folgen bereits deutlich spüren kann. Wer vom Griff auf die heiße Herdplatte gelernt hat, fasst nicht erneut drauf und wartet, bis die Hand wieder schmerzt, bevor er sie weg nimmt. Daher müssen wir der Politik auf die Füße steigen, damit sie unsere Grundrechte schützt. Besonders vor sich selbst.
(Bilder: mr172, CC -- BY NC SA 2.0; Lear21, CC -- BY SA 3.0)
Widerstand braucht einen langen Atem. Unterstützen Sie unsere Arbeit.