Überwachung macht uns krank im Kopf
Unter dem Motto „Deine Daten bei Geheimdiensten“ veranstaltet die Humanistische Union (HU) im Rahmen der Kampagne „ausgeschnüffelt“ eine Blogparade. Hier ist unser Beitrag.
Die Grenzen zwischen gesunder Skepsis und krankhaftem Verfolgungswahn verwischen zunehmend. In einer Welt, in der man keinen Anhaltspunkt mehr hat, worauf man sich verlassen kann und ob man der eigenen Regierung vertrauen kann, wird es unmöglich, souverän zu leben und zu handeln. Doch was passiert, wenn man sich über Nichts mehr sicher sein kann?
Die Grenzen verwischen
Es ist nicht neu, dass es Menschen gibt, die sich verfolgt fühlen, die glauben „die da oben“ würden über Strahlungen oder Chemikalien Einfluss auf ihre Gehirne und ihr Verhalten nehmen. Menschen, die sich krankhaft verfolgt und überwacht fühlen. Es ist ebenfalls nicht neu, dass es Politiker und Politikerinnen gibt, die korrumpierbar sind und sich nicht am Gemeinwohl orientieren, sondern an ihrem eigenen Vorteil. Bestechungs- und Erpressungsversuche hat es in der Vergangenheit oft gegeben und wir wissen, dass Firmen, Dienste und Lobbyisten, viele Informationen sammeln, um ihren Einfluss zu stärken.
Neu ist, dass gesundes Misstrauen und kritisches Hinterfragen mittlerweile kaum noch zu unterscheiden sind von dem, was früher als Verschwörungstheorie galt. Wir werden tatsächlich sehr umfassend verfolgt und überwacht, können uns dem kaum noch entziehen. Viele unserer Bewegungen im Alltag werden registriert und erfasst. Und wir wissen ebenfalls, dass durch Einfluss auf unsere Kommunikation auch unser Verhalten gesteuert werden kann. Wie können wir da noch zwischen Realität und Verschwörungstheorie unterscheiden?
Wir wissen, dass Politiker besonders korrumpierbar werden, wenn sensible Informationen über sie bekannt werden (könnten). Wir wissen außerdem, dass die NSA über längere Zeit hinweg (nicht nur) unsere Spitzenpolitikerinnen überwacht hat. Ist es dann noch abwegig, anzunehmen, dass Angela Merkels sanfte Reaktion auf den NSA-Skandal damit zusammenhängen könnte, dass die NSA über Informationen verfügt, die sie geheim halten möchte?
Wir wissen, wozu Technik und analytische Datenauswertung heutzutage in der Lage sind, doch haben wir kaum eine Vorstellung davon, was tatsächlich passiert. Wir werden analysiert und sortiert anhand von Kriterien, die uns nicht transparent gemacht werden.
Jennifer A. Whitson und Adam Galinsky fanden heraus, dass Personen, die wenig Kontrolle über eine Situation haben, eher Muster und Zusammenhänge wahrnehmen, die gar nicht existieren und somit anfälliger für Paranoia sind. Die Psyche versucht den Kontrollverlust durch scheinbare Strukturen zu kompensieren, um Halt zu generieren und die Orientierung wiederherzustellen.
Dieses Verhaltensmuster wird zum gesamtgesellschaftlichen Problem, wenn dieser Kontrollverlust alle Menschen betrifft. Bereits jetzt fehlt uns oft das Werkzeug, um zwischen paranoider Angst und berechtigter Sorge zu unterscheiden.
Wurde mir die Waschmaschine vom Versandhändler nicht geschickt, weil es einen Fehler gab oder weil mein Scoring-Wert zu schlecht war? Warum verhält sich mein Handy merkwürdig, nachdem ich von der Reise durch den Iran zurückgekehrt bin? Sollten wir uns nicht wundern, dass Katy Perry ihr neustes Album „Prism“ nennt, zwei Monate nachdem der große Skandal um die gleichnahmige Software bekannt wurde, und sich in keinster Weise dazu äußert?
Krankhafter Verfolgungswahn oder gesundes Misstrauen?
Wer Kommunikationsprozesse kritisch verfolgt, kann schnell für einen „Verschwörungstheoretiker“ gehalten werden. Ein Umstand, der es um so schwerer macht, krankhaften Verfolgungswahn aufzudecken. Gesundes Misstrauen geht Hand in Hand damit, die Verantwortung für die Zukunft dieser Entwicklung zu übernehmen und den Umgang mit Daten in der Gesellschaft und Politik aktiv zu beeinflussen.
Die Dokumentation „Die Wirklichkeit kommt“ von Niels Bolbrinker zeigt, wie sich Verfolgungswahn darstellt.
Menschen mit krankhaftem Verfolgungswahn suchen die Verantwortung nicht bei sich selbst, sondern machen den Staat und andere politische und wirtschaftliche Organe verantwortlich. Jemand, der sich überwacht fühlt und nicht wissen kann, wer vertrauenswürdig ist, kann jegliches Gegenargument damit entkräften, die Person oder der Sachverhalt gehöre ebenfalls zur Verschwörung: Ein Teufelskreis und Kernelement jeder Verschwörungstheorie.
Dieses Kernelement ist mittlerweile auch in der „realen Welt“ angekommen. Denn wir fühlen uns überwacht und es wird immer schwerer zu erkennen, wer vertrauenswürdig ist.
Deshalb schlägt der Verschwörungs-Detektor immer schneller an. Bald wirkt jede Erklärung, jede Überlegung, jede Annahme und jede Begründung wie eine Verschwörungstheorie. Und dann?
Wenn jede Erklärung weltpolitischen Geschehens zur Verschwörungstheorie wird, bröckelt das Vertrauen in die Demokratie. Ohne Anhaltspunkte, welche Informationen wir als verlässlich einstufen können, fehlt uns die Entscheidungsgrundlage für unser eigenes Handeln. In einer Welt, in der es keine „Wahrheit“ mehr gibt, werden wir alle in die Handlungsunfähigkeit gedrängt. Dann fühlen wir uns verfolgt, überwacht und fremd-beeinflusst. Gleichzeitig kennen wir die Möglichkeiten der Einflussnahme auf uns und können nichts dagegen tun. Wir sind ja nicht einmal in der Lage, zu bestimmen, in welchem Ausmaß diese Beeinflussung und Manipulation stattfindet.
Überall Verschwörungen
Überwachung macht uns krank im Kopf. Sie führt dazu, dass wir uns in ständiger Manipulation wägen, unser Verhalten den (vermeintlichen) Normen anpassen und nicht mehr erkennen können, wo unsere Sorgen berechtigt sind.
Deshalb entschied das Bundesverfassungsgericht 1983 im Urteil zur Volkszählung:
„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“
Doch wenn Daten verknüpft werden, verraten sie wesentlich mehr. Gleichzeitig haben wir keinerlei Anhaltspunkte zu erahnen, wie unsere Daten verknüpft werden. Wir wissen nur, dass es geschieht. Bei der zunehmenden Unübersichtlichkeit lässt unsere Gesellschaftsordnung gar nicht mehr zu, dass wir wissen können, wer welche Informationen über uns verfügt. Wir können alle schon mal einen Termin beim Therapeuten verabreden.
Da werden wir nur herum kommen, indem wir jetzt Verantwortung für unsere psychologische Gesundheit und unser demokratisches System übernehmen und endlich aus der Schockstarre erwachen. Überwachung geht uns alle an.
Wer möchte, kann den Selbstversuch starten. Begeben Sie sich in die Position der Datenschutzkritiker, die unsere Sorgen für übertrieben halten und als Verschwörungstheorien abtun. Gehen Sie doch noch einen Schritt weiter! Betrachten Sie jegliche Erklärung als Verschwörungstheorie und versuchen Sie auf Basis dieser Informationen, noch eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Wenn es Ihnen gelingt, berichten Sie uns davon.
Text: Leena Simon und Sarah Dörpinghaus
(Bild: digital cat CC by 2.0)
Weitere Artikel der Blogparade:
Blogbeitrag der Humanistischen Union „Deine Daten beim Inlandsgeheimdienst“
- Freitag 6. Juni 2014: Campact zum Jahrestag der Snowden-Enthüllungen
- Freitag 6. Juni 2014: Wegecon: Vodafone gesteht Teilnahme an Massenüberwachung
- Montag 9. Juni 2014: Digitalcourage zu “Überwachung macht uns krank im Kopf”
- ca. 16. Juni 2014: Digitale Gesellschaft zu „Deine Daten beim BND – Was der Untersuchungsausschuss ans Licht bringt“
- ca. 20. Juni 2014: Free Software Foundation zu “Schutz vor Überwachung – Verschlüsselung mit Freier Software”
- ca. 22. Juni 2014: AK Vorrat zu “Anlasslose Überwachung – das Ende des Rechtsstaatsprinzips”